MICHAEL RAMSAUER




   
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Dr. Harry Lehmann in Michael Ramsauer – Ein expressionistischer Maler in Zeiten der Naiven Moderne, Verlag Reiner Brouwer, Stuttgart 2006


Expressionismus – der kanonische Stil der Moderne

In einer seismologisch unauffälligen Landschaft, in dem barocken Städtchen an der Elbe, brach vor genau einhundert Jahren ein Vulkan aus – der deutsche Expressionismus. Das glühende Magma der Malerei trat erstmals an die Oberfläche der Bilder und ergoß seine Farbmassen in die Idyllen der Kunstgeschichte. Seitdem war dieser Lavastrom nicht mehr versiegt und es kam in den 20-er, 50-er und 80-er Jahren – im abstrakten Expressionismus, dem Actionpainting und bei den Neuen Wilden – immer wieder zu größeren Eruptionen. Im Vergleich zu allen anderen Stilrichtungen besaß der Expressionismus in der Museumskunst des 20. Jahrhunderts wohl die größte Kontinuität; er war das Feuer, das nie verlosch, das in jeder ästhetischen Epoche am Glimmen gehalten wurde. Allein am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die alten Medien von den neuen Medien verdrängt und die gemalten Bilder von den fotografierten ersetzt wurden, schien für einen Augenblick das Tafelbild als solches an sein Ende gekommen zu sein. Doch seit kurzem weiß man, daß dem nicht so ist. Auffällig ist allerdings, daß die Malerei heute nicht wie Phönix aus der heißen Asche des Expressionismus aufersteht, sondern daß ihre Renaissance viel eher mit der Wiederbelebung und Wiederentdeckung der figurativen, gegenständlichen Malerei zu tun hat. Kurz, der Expressionismus scheint aus der Mode gekommen zu sein – aber weshalb? Wieso konnte er sich über alle Krisen des letzten Jahrhunderts hinweg behaupten und sowohl in der Klassischen Moderne, wie in der Avantgarde und zuletzt noch in der Postmoderne seine eigene spektakuläre Schule hervorbringen, nur eben nicht heute?

Diese Fragen kamen mir in den Sinn, als ich die expressiven Bilder von Michael Ramsauer zum ersten Mal sah, und es schien mir, daß sie sich in diesem Spannungsfeld behaupten wollten und behaupten müßten. Ansonsten käme man ganz schnell zu dem ästhetischen Verdikt: sie seien naiv. Naivität allerdings wird derzeit in ganz neuer Weise für die Kunst zum Problem. Vergegenwärtigt man sich nämlich die großen Zäsuren der modernen Kunstgeschichte, dann wird eines evident: Die Kunst der Moderne war bis zuletzt am Materialfortschritt orientiert, an einer Überbietung der jeweils vorhandenen technischen Mittel, an der skandalträchtigen Negation dessen, was die vorhergehende Generation bislang geleistet hatte. In der Malerei hieß dies in allererster Linie: Preisgabe der Zentralperspektive, Ablösung von der Lokalfarbe und Deformation der Gestalt.

Die Geburt des Expressionismus stand noch unter dem alten Stern, durch eben diese Traditionsbrüche den Ausdruck der Kunstwerke zu steigern. In diesem Sinne verfolgten die Brücke-Maler ein ganz klassisches Anliegen und gehören dementsprechend zu den Hauptvertretern der Klassischen Moderne. Von da an geriet die Kunst aber in den Sog ihrer modernen Eigenlogik, die da hieß: »Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht«. So war der abstrakte Expressionismus der Avantgarde bereits im weitesten Sinne »Konzeptkunst«, man mußte schon die informelle Konzeption kennen, um wahrnehmen zu können, was Informelle Kunst abstrakt zum Ausdruck bringen will. Als diese Logik der fortschreitenden Materialexperimente sich im Medium der Malerei erschöpft hatte, als die letzten Bilder gemalt waren, trat als Retter in der Not die Postmoderne auf den Plan. Sie brach mit dem Gesetz, die einmal benutzten malerischen Mittel nicht noch einmal zu benutzen, sie enttabuisierte auf ihre Weise das Tabu über die figurative Malerei – aber mit einem hochreflektieren Trick: mit einer ironischen Brechung, die den Kennern zu verstehen gibt, daß die ins Bild wiedereingeführte Figur nicht wirklich ernst gemeint ist. So bringt die postmoderne Malerei, bis heute, nur für den Laien wieder etwas zum Ausdruck. Für den Kenner hingegen spielt sie mit der Tradition, macht deren Versatzstücke als Zitate kenntlich, sie entzaubert die Abbildung mit einer ironischen Bildunterschrift oder – unübertrefflich – stellt das ganze Bild auf den Kopf. Diese doppelte Lesbarkeit der Bilder bezeichnet man deswegen zurecht als eine »Doppelcodierung« der postmodernen Kunst.

Doch der Name »Postmoderne« hält nicht, was er verspricht. Mit ihr beginnt keineswegs das zeitlose Zeitalter der Nach-Moderne. Sie bricht nicht wirklich mit der Materiallogik des Kunstsystems, genau genommen setzt sie diese – mit ironischen Mitteln – fort. Heute leben wir nun in einer Zeit, in der auch dieser strategische Witz als Stilmittel vorhersehbar geworden ist, so daß man auf den spöttischen Augenaufschlag und die versteckte Überlegenheitsgeste in den Bildern schon einmal verzichtet. Die Ironie hat als heimlicher Legitimationsgrund eines guten Bildes ausgedient, und dies ist auch der Grund, weshalb man wieder ganz naiv seine Bilder malen kann, als hätte es die ganzen Skrupel, Selbstkasteiungen und Verbote in der Malerei des 20. Jahrhunderts nie gegeben. Dementsprechend sind auch die großen privaten Sammler so frei, allein auf ihr eigenes Geschmacksurteil zu setzen und das zu kaufen, was ihnen ohne allen Selbstzweifel unmittelbar gefällt. Die postmoderne Kunst besaß noch einen starken Willen zur ästhetischen Brechung und war allein schon deshalb nicht naiv. In das Stadium ihrer totalen Infantilisierung gerät die Kunst erst heute, wo selbst diese letzte Selbstbeschränkung hinfällig geworden ist.

Deswegen, so meine ich, folgt nach der Postmoderne nicht etwa nichts, sondern eine »Naive Moderne«, welche selbst noch den ironischen Skeptizismus der Postmoderne überbietet, indem sie wieder ernsthaft, ungebrochen bei der Sache ist. Der Malstil, welcher dieser Tendenz zur Wahrheit, Wirklichkeit und Authentizität am besten symbolisieren kann, ist zweifellos – der Realismus. Die figurative, realistische Malerei war es auch, die bis heute vom Kunstsystem am nachhaltigsten ausgegrenzt wurde. Und zwar weniger, weil er im anderen Gesellschaftssystem zum Staatsstil erhoben wurde, sondern weil er an sich für traditionalistische Malerei und ein antimodernistisches Werkverständnis gestanden hat.

Aus diesem historischen Rückblick wird deutlich, weshalb ausgerechnet der Expressionismus zu ganz verschieden Zeiten im vergangenen Jahrhundert die Malerei wiederbeleben konnte. Die expressive Formensprache mit ihren Prinzipien der deformierten Figur und der falschen Farbe war sozusagen das Markenzeichen für Modernität in der Malerei. Heute aber, nachdem die Postmoderne erfolgreich vorgeführt hat, daß sich jede nur denkbare normative Differenz dekonstruieren läßt, nachdem es keine verläßlichen Unterscheidungen mehr gibt, an denen sich ein ästhetisches Urteil festmachen ließe – gibt es plötzlich auch keinen Grund mehr, den Realismus als Stil abzulehnen. Deswegen vollzieht sich die Renaissance der Malerei heute primär in einer Rückbesinnung auf die figurative, realistische Malerei und deswegen scheint auch der Zeitgeist heute erstmals seit einem Jahrhundert mit dem Expressionismus als dem kanonischen Stil der Moderne zu brechen. In diesen historischen Kontext fällt nun das expressive Werk von Michael Ramsauer, und die naheliegende Frage wäre entsprechend, ob und wie es sich hier zu behaupten vermag.

Verzögerte Wahrnehmung

Einem Werk gerecht werden heißt, es mit seinen eigenen Unterscheidungen wahrnehmen, die es uns zur Wahrnehmung anbietet. Was also ist zu sehen in den Gemälden von Michael Ramsauer? Mit welchen Differenzen arbeitet der Maler im Bild? Zunächst einmal kann man vier verschiedene Bildtypen unterscheiden: es gibt zum einen farbige Gemälde, welche menschliche Figuren in einer Landschaft hervortreten lassen, und solche, welche Menschen in einem abstrakten Farbraum darstellen. Und es lassen sich die schwarz-weißen Arbeiten noch einmal danach unterscheiden, ob sie eine schwarze Figur auf weißem Grund in ihrer ganzen plastischen Ganzheit und Fülle zeigen oder aus Licht- und Schattenflecken zusammengesetzt werden. Vier Extrempunkte, zwischen denen zur Zeit das Werk von Ramsauer entsteht.

Abb./Fig. 1: Bildnis
Oel auf Leinwand | 150x140cm | 2005

Eine weitere Auffälligkeit sind die Bildunterschriften, die sich unterschiedslos auf die verschiedensten Sujets beziehen. So gibt es zum Beispiel mehrere Gemälde, die den Namen »Bildnis« tragen, obwohl einmal ein sitzender Mann, ein andermal ein Frauenkopf oder das Brustbild eines Mädchens zu sehen sind. Wenn das Sujet aber so unwichtig wird, worum geht es dann? Diese Figuren im abstrakten Raum treten in vielen Variationen auch noch als »Liegende«, »Stehende«, »Sitzende« und »Gehende« in Erscheinung – sprich, es geht hier ein ums andere Mal um die basalen Möglichkeiten, wie eine menschliche Gestalt Raum einnehmen kann. Das heißt: Ramsauer arbeitet an klassischen bildhauerischen Themen im Medium der Malerei. Dem abstrakten Farbraum, in dem sich seine Figuren wiederfinden, entspricht der leere Raum, in dem sich die klassische Skulptur bewegt. Wenn man bedenkt, daß der Maler parallel als Bildhauer arbeitet, dann fragt man sich um so mehr, worin der ästhetische Mehrwert dieser Bilder besteht. Ich denke, es ist der emphatische Augenblick, wo die menschliche Figur aus dem Nichts in den Raum tritt, wo sie zur Gestalt wird. Dieses raumgreifende Moment setzt die Plastik – als Gegenstand, der uns körperlich entgegensteht – immer schon voraus, sie kann es aber nicht selbst darstellen. Die Malerei hingegen vermag die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Figur und Grund unendlich zu verkleinern. Eine immer wieder zu beobachtende Technik von Ramsauers Malerei ist es, die abgebildeten Figuren mit den Farbräumen zu verschmelzen, wie etwa bei jenem sitzenden Mann (Abb. 1), dessen Gestalt von denselben gelblich-rötlichen Farbflecken überzogen wird wie der Stuhl, auf dem er sitzt, und wie der abstrakte Raum, in dem er sich befindet. Die Umrisse der Figur zeichnen sich allein in einigen wenigen weißen Umrißlinien ab, die ein Steiflicht von links oben auf ihn wirft. Der Bildtitel aber schickt den Betrachter weiter auf die Suche nach der im Gemälde verborgenen Gestalt. Zuerst nimmt man nur die zerborstene Kontur, einen Kopf, einen Oberkörper und einen Arm wahr. Hierbei zeigt sich eine wesentliche Qualität von Ramsauers Bildern, nämlich, daß sie sich dem Auge tatsächlich erschließen, je länger man den Blick an ihnen haften läßt. So erkennt man zum Beispiel nach einer Weile auch zwei Finger einer Hand, die auf einer Armlehne liegt. Und schließlich blickt man in das linke dunkle Auge dieses Mannes, erkennt seine Nase, interpretiert einen kleinen roten Flecken unter ihr als seinen Mund und nimmt schließlich das andere Auge als jenen runden weißen Lichtflecken wahr. Mit distanziertem Blick wird man plötzlich von diesem sitzenden Mann gemustert. Die Figur tritt uns in einer Präsenz gegenüber, wie sie es im Leben kaum jemals vermag. Aber weshalb?

Abb./Fig. 2: SW Maedchen
Oel auf Leinwand | 180x140cm | 2005

Die Gemälde von Ramsauer gewinnen ihre Wirkmächtigkeit gerade daraus, daß sie ihre Figuren auf der Schwelle der Wahrnehmbarkeit erschaffen. Nur wo die Aufmerksamkeit aufs äußerste gespannt ist, machen wir eine ästhetische Erfahrung, die berührt. Obwohl es heutzutage viel Kunst gibt, die ästhetisch nicht erfahrbar ist, bleibt es nach wie vor eine große Möglichkeit der zeitgenössischen Kunst, Werke zu schaffen, welche die Imaginationskraft ein ums andere Mal fordern. Aus demselben Prinzip wie jene Figuren im abstrakten Raum leben auch die anderen Bildzyklen. Ich würde es das »Prinzip der verzögerten Wahrnehmung« nennen, dem Ramsauers Bilder folgen – es wird nur in den unterschiedlichen Werkzyklen verschieden konkretisiert.
Die schwarzen Figuren auf weißen Grund, wie z.B. jenes »Mädchen« (Abb. 2), verlagern dieses Prinzip nach innen. Der Umriß der Figur hebt sich gestochen scharf auf dem Hintergrund ab, sie läßt sich mit einem Blick erfassen; was erst langsam aus den zentimeterdick aufgespachtelten pechschwarzen Schichten hervortritt, sind die Binnendetails. Weiße Glanzlichter liegen auf der Figur als sei sie aus glattpoliertem Metall, etwa auf ihrer linken Schulter, im Haar oder an ihrer rechten Stirn. Im Spiel von tiefschwarzen Schatten und mattgrauem Widerschein modelliert das Licht eine Plastik auf der Leinwand. Eine Brust tritt hervor, die Schulterpartien werden voluminös, der Kopf gewinnt seine Form und schließlich trifft den Betrachter auch hier wieder ein distanzierter Blick aus einer dunklen Augenhöhle, neben der sich eine helle Nasenpartie abzeichnet und zu der man, durch einen weißen Lichtschimmer hindurch, das andere Auge zum Augenpaar findet. Auch diese schwarz-weißen Bilder sind so geschaffen, daß sie die Wahrnehmung des Betrachters zur Selbstorganisation nötigen, zum schrittweisen Zusammenfügen der Bildelemente mit Hilfe der eigenen Vorstellungskraft. Wo diese Kraft nicht aufgebracht wird oder wo sie nachläßt, verflacht und verschwindet das plastische Bild.

Abb./Fig. 3: Badende
Oel auf Leinwand | 160x140cm | 2003

Doch wozu die ganze ästhetische Anspannung? Weshalb wird die Grenze der Wahrnehmbarkeit in den Bildern derart künstlich verschoben? Ist es allein der artistische Wille, Dinge sichtbar werden zu lassen, die man ansonsten nicht sieht? Spätestens wenn man sich jenen dritten Typus von Bildern zuwendet, in denen sich der Raum hinter den Figuren zur Landschaft weitet, wird klar, daß Ramsauers Werk mehr als bloß eine Wahrnehmungsschule sein will. Man erkennt hier deutlicher als sonst die Formentscheidungen und den Gestaltungswillen, die in diesen Bildern stecken und konträr zum expressionistischen Gestus der zügellosen Entgrenzung stehen. Die Monochromie der Bilder offenbart hier nämlich einen Sinn, den die im abstrakten Raum stehenden, liegenden, sitzenden, kauernden, gehenden, sich bückenden oder sich streckenden Figuren kaum preisgeben: Sie werden von der Atmosphäre ihres Raumes durchdrungen und verschmelzen auf die ein oder andere Weise mit der sie umgebenden Natur. Besonders deutlich wird dies etwa im Bild »Badende« (Abb. 3), in dem sich die Figuren allein vermittels einer weißen Umrißlinie vom rotgoldenen Grund abheben. Die Frau im Vordergrund wird ganz transparent für die Stimmung, in welcher die sonnendurchflutete Strandlandschaft liegt. Links von ihr ist eine Uferlinie zu erkennen, die von den Lichtreflexen des anbrandenden Wassers sich bis zur Horizontlinie schlängelt, die wiederum das gesamte Bild im goldenen Schnitt unterteilt. Der Verweis auf die Landschaft ist im Titel dieses Bildertypus fast immer enthalten. Die Gemälde heißen »Feld«, »im Feld«, »Landschaft«, »Liegende in Landschaft«, »Badende« oder »Badender«, »Weide« usw. Diese Hinweise sind unverzichtbar, weil sie eine Suchrichtung für den Betrachter vorgeben. Würde man ansonsten in diesem Bild nach Wasser Ausschau halten, daß sich allein an den feinen Unterschieden im Pinselstrich zeigt?

Abb./Fig. 4: Reiter im Feld
Oel auf Leinwand | 50x60cm | 2005

Am deutlichsten wird diese Arbeitsweise bei dem »Reiter im Feld« (Abb. 4). Ohne das explizite Bildkonzept bliebe das Gemälde abstrakt. Der Interpretationsspielraum wird durch den relativ unbestimmten Titel aber soweit eingeschränkt, daß ein sich selbst vorantreibender Wahrnehmungsprozeß in Gang kommen kann: man erkennt zunächst die nach vorn gebückte Gestalt mit Kopf und zwei Armen, die in typischen Reiterhaltung die Zügel halten dürfte. Damit ist in etwa das Ort markiert, wo sich in dem Getreidefeld der Pferdekopf befinden müßte. Und wie immer halten Ramsauers Bilder, was ihr Titel verspricht: In der Verlängerung der beiden Armstriche verwandeln sich die Stoppeln auf dem Acker in eine weiße Mähne, unter der schemenhaft ein Tierkopf hervorlugt. Entscheidend ist wiederum, ob man das linke dunkele, rötlich gemalte Auge entdeckt; dann erkennt man auch auf der gegenüberliegenden Seite die markante Umrißlinie eines Pferdekopfes mit seinen Nüstern. Wie sonst auch die Menschen in Ramsauers Bildern schauen, schaut auch dieses Tier, leicht von unten blickend, aus dem Bilde hervor. Schließlich gewinnt auch der Reiter noch an Gestalt – sein linker Oberschenkel, sein Knie und ein Fuß im Steigbügel scheinen durch den Wildwuchs der Farbe hindurch. Unter den Hufen des Reiters gewinnt die Farblandschaft dann auch ihre Tiefe und öffnet sich in einen unendlich weit scheinenden Raum. Die Horizontlinie wird hier nicht einmal, wie bei den Badenden (Abb. 3), mit einer schwachen Linie angedeutet, wo ein kleiner weißer Strich in Schulterhöhe der Frau die Proportionen definiert. Beim »Reiter im Feld« ist es allein die Pinselschraffur, mit welcher der Maler Erde und Himmel teilt: der mit gelblich weißen Farbstriemen gemalte Acker weicht im oberen Viertel des Bildes einer viel ruhigeren, glatten Oberfläche. Dies ist ganz deutlich auf der linken Bildseite der Fall; auf der rechten laufen die in den Farbmassen sich abzeichnenden Linien auf einen einzigen Fluchtpunkt im Rücken des Reiters zu. Gerade weil das zerfurchte Feld hier in die zerpflügte Wolkenwand übergeht, weil der Horizont am rechten Bildrand wieder verschwimmt, gewinnt das ganze Bild eine unergründliche Tiefe.

Abb./Fig. 5: Badende
Oel auf Leinwand | 70x80cm | 2004

Noch einmal anders als im roten Bild von den Badenden und im bräunlichen Bild des Reiters im Feld entsteht bei dem grünen Bild »Badende« (Abb. 5) aus der abstrakten Farbfläche der konkrete Landschaftsraum. Zwei vom Grün einer Wiese durchschienene Figuren stehen mit den Füßen im Blau eines Gewässers, in dem sich weiß das Licht reflektiert. Der Mann, sein Rücken und sein Gesäß, ist von hinten zu sehen, er räkelt sich in einer antiken Pose; daneben eine Frau, deren Kopf, Schultern und Brüste im Sonnenschein glänzen. Dimensioniert wird dieser Naturraum auf der linken Bildseite aber erst – in seiner ungefähren Abfolge von Wasser, Wiese, Wald –, indem rechts neben dem Paar der Himmel in hellen Lichtflecken durch das verzweigte Gebüsch tritt. Hat man diesen Bildaufbau erst einmal im Blick, nimmt man auch den breiten Wiesenstreifen wahr, der über den Figuren in die Ferne führt.

Abb./Fig. 6: Badende
Oel auf Leinwand | 50x50cm | 2005

Im Gegensatz zu diesen quasi monochromen Bildern gibt es auch eine ganze Reihe von Gemälden, welche die farbliche Abstraktion noch weiter zurücknehmen und die Lokalfarben der Landschaft symbolistisch überhöhen, also zum Beispiel wie bei den »Badenden« (Abb. 6) den Abendhimmel dunkelrot und das Wasser tiefblau leuchten lassen. Die Körper und die fließenden Wassermassen treten in den Streiflichtern der untergehenden Sonne besonders plastisch hervor. Durch die starken Farbkontraste legt sich unweigerlich die Stimmung einer Götterdämmerung über die Landschaft, welche ihren eigentlichen Bestimmungsort wohl eher in den mythologischen Themen dieser Bilder findet.

Abb./Fig. 7: SW am Baum
Oel auf Leinwand | 160x160cm | 2003

Bevor wir uns abschließend der offenen Frage zuwenden, wohin jene absichtsvoll verzögerte Wahrnehmung den Betrachter von Ramsauers Bildern führen mag, welche Art von Expressionismus diese Arbeitsweise hervorbringt und wie sich ein derart klassisch moderner Stil im Zeitalter einer naiv gewordenen Moderne behaupten kann, möchte ich noch kurz auf eine vierte Werkgruppe eingehen, die sich in diesem Ausstellungskatalog findet. Gemeint sind jene Arbeiten, die wie »SW am Baum« (Abb. 7) in einer ganz extremen Weise die Umrißlinie der Figuren auflösen, so daß man dazu genötigt ist, die bloße Leinwand als Partien eines vom Licht durchfluteten Körpers zu sehen. Die Arbeitsweise aus den monochromen Bildern, bei denen der farbige Grund durch die Figur hindurchscheint, wird hier auf das Schwarz-Weiß-Bild übertragen. Zunächst einmal ist überhaupt nicht klar, was sich hier »am Baum« befindet; man könnte beim ersten flüchtigen Hinsehen auch eine abstrakte Komposition in dieser Arbeit sehen, in der wie bei dem schwarzen Mädchen in dicken Schichten die pechschwarze Farbe aufgespachtelt ist. Ein winziger schwarzer Punkt in der horizontalen Bildmitte, im oberen Drittel gelegen, läßt erst die Figur in Erscheinung treten: es handelt sich wieder einmal um die dunkle Augenhöhle eines Kopfes, dessen rechte Gesichtshälfte vollkommen im gleißenden Sonnenlicht verschwindet. Wie in einem Vexierbild muß man die verschiedensten Sichtmöglichkeiten ausprobieren, bis das abstrakte Bild in seine konkrete Gestalt kippt. Von diesem archimedischen Bildpunkt aus organisiert das Werk die zerstreuten Wahrnehmungen des Betrachters und fügt sie wie ein Puzzle zusammen. Zwei Lichtflecken liegen auf der Brust einer Frau, die mit der linken Schulter an einem schräg ins Bild wachsenden Baumstamm lehnt. Wiederum blickt diese Licht-und-Schatten Gestalt uns mit leicht nach unten geneigtem Kopf an, streckt ihren rechten Arm schräg nach vorn. Arm und Kopf und drei auf einer Linie stehende Baumstämme sind klar zu erkennen, aber an welchen Linien und Flecken sollte sich hier noch ein menschlicher Leib bestimmen? Die schwarz-weiße Figur wirft ihren eigenen Schatten und verschmilzt bis zur Unkenntlichkeit mit ihnen. Der Betrachter muß – wenn er das Bild und nicht bloß sein eigenes Phantasiebild sehen möchte – mit dem Auge den im Schatten liegenden Körper von dessen Schattenwurf trennen. Dann zeigt sich, daß der zweite schwarze Streifen, der sich vom rechten unteren Rand ins Bild schiebt, nicht etwa zum rechten Baumstamm gehört, sondern der Schatten ist, den die Stehende auf den Boden wirft und der hinter dem Baumstamm fleckig wieder hervortritt. Ein leicht angewinkeltes und ins gleißende Sonnenlicht vorgestrecktes linkes Bein tritt nun als weiße Fläche an der Figur hervor. Mit ausladender Armbewegung lehnt sie lässig mit der Schulter am Baum, vermutlich das linke Bein über das rechte geschlagen. Wenn sich derart die Bildsegmente zum Bild gefügt haben, kann man schließlich auch noch eine senkrechte, zwischen Stamm und Köper herabgezogenen Linie entdecken, die sich just dort wiederfindet, wo man den linken herabhängenden Arm des am Baum lehnenden Menschen vermuten würde. Selbst hier, wo sich nur noch die schwarze Farbe von schwarzen Farbkrusten unterscheiden läßt, macht das Bild Unterscheidungen, die einen Unterschied machen, d.h. eine Gestalt hervortreten lassen oder nicht.

Entstilisierter Expressionismus

Die Malerei nach der Postmoderne tendiert zum Realismus und wird naiv. Auch dies läßt sich beklagen und begrüßen zugleich. Auf der einen Seite kann man überhaupt wieder ohne strategischen Vorbehalt in alten Medien wie der Malerei arbeiten, auf der anderen Seite fällt mit der ironischen Brechung auch die Immunisierung der Bilderwelten gegen ihre kunsthandwerkliche Banalisierung fort. Das heißt nichts anderes, als daß die Malerei, naiv, wie sie geworden ist, ihren Kunstbegriff preisgibt und zu einem Segment im Luxusdesign wird. Diesem Schicksal entziehen sich Ramsauers Bilder vorab: Sie fordern von ihren Betrachtern Zeit für die Wahrnehmung, sie verlangen ihm eine Arbeit des Sehens ab – und lassen die konsumierenden Blicke ins Leere schauen.Auf diese Weise kann das je einzelne Bild seinen Kunstcharakter behaupten, bzw. es kann und muß diesen Beweis ein ums andere Mal führen. Was aber bedeutet dies für den Expressionismus als Stil, in dessen Traditionslinie dieses Werk doch ganz offensichtlich steht? Die wichtigsten Stilmittel des Expressionismus, die deformierte Gestalt und die verfälschte Lokalfarbe kommen bei Ramsauer anders als gewohnt zum Einsatz. Standen sie vor einhundert Jahren im Zeichen der Entgrenzung – der Malerei und des Subjekts – so scheinen sie nun ihren Richtungssinn geändert zu haben. Zwar sprengen diese Bilder wie ehedem die Form – die Linien werden zerstückelt, die Flächen zerbrochen, die Farben verfremdet –, aber die gesprengte Form steht nicht mehr einfach im Zeichen der Befreiung – der Wahrnehmung, des Menschen, der Welt. Die Emanzipation der Form dient bei Ramsauer vielmehr der Formfindung: der Faszination daran, daß auch im Bereich der möglichen Sichtweisen eine bestimmte Sichtweise prägnanter als alle anderen sein kann. Seine Bilder sind weder bestimmt noch unbestimmt, sondern bestimmen sich selbst. Die Selbstprogrammierung seiner expressionistischen Werke konterkariert damit den Expressionismus als Stil, man könnte auch sagen, der Expressionismus wird entstilisiert. Genau dies scheint mir die einzig mögliche ästhetische Einstellung zu sein, mit der man heute in einem traditionellen Stil arbeiten kann, ohne das entsprechende Genre naiv zu bedienen.

Wenn das Banner des Materialfortschritts nicht mehr auf den Bastionen des Kunstsystems weht, dann muß der Begriff von Neuheit, Avanciertheit und Modernität noch einmal neu definiert werden. Auf Neuheit kann die Kunst unter keinen Umständen verzichten. Für den Gebrauch der alten Medien gilt dann, daß die Selbstprogrammierung des einzelnen Werkes sich gegen das Programm seines alten Stils durchsetzten muß. Wie aber verhält es sich mit den alten Sujets, mit den alten Themen und Motiven der Malerei? Was können uns die gemalten Figuren in ihren sitzenden, liegenden, gehenden und stehenden Posen noch sagen? In welchem Sinne können jene Badeszenen heute noch von Interesse sein? Das Werk von Ramsauer scheint um eine ganz bestimmte Sinnstelle zu kreisen, um eine bestimmte Haltung des Menschen, der er mit einem Bild ein ums andere Mal zum Ausdruck verhelfen will. Wenn man sich noch einmal der Reihe nach den im gelben Farbraum sitzenden Mann, das schwarze Mädchen, die verschiedenen Badenden, den Reiter im Feld und jene Frau am Baum anschaut, dann ist ihnen eines gemeinsam: Ihre Gelassenheit, mit der sie je für sich stehen. Ganz gleich, ob sie im abstrakten oder im realen Raum erscheinen – sie ruhen in sich selbst. Hierin liegt wohl der über die reine Bildästhetik hinausweisende Sinn, weshalb diese Figuren mit ihrer Umgebung bis zu Unkenntlichkeit verschmelzen und jeder Blickkontakt mit ihnen den Betrachter auf Distanz hält. Kein Wunder, wenn sich die in den engmaschigen Netzen sozialer Abhängigkeiten gefangenen Zeitgenossen an diesen Bildern – mit ihren sich selbst genügenden Menschen – nicht satt sehen können.

Im Zeitalter der Naiven Moderne finden die alten Medien der Kunst wieder zu sich selbst; sie müssen nicht notgedrungen in ihrem jeweiligen Material fortschreiten, es genügt jetzt, das Material zu beherrschen. Für eine solche Kunst, die sich an die alten Medien und Stile hält, bedeutet dies: daß sie schwierig ausfallen muß. Sie wird dem Betrachter eine Arbeit des Sehens abverlangen, die ihn seine Welt neu sehen läßt. Nur so kann eine in der Tradition verhaftete Malerei wie die von Michael Ramsauer das leisten, was sie als zeitgenössische Kunst leisten muß: Bilder zu machen, die uns wichtig sind.